„Holocaust“-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität

„Holocaust“-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität

Organisatoren
Iris Roebling-Grau, Institut für Komparatistik, Ludwig-Maximilans-Universität München; Dirk Rupnow, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.10.2011 - 30.10.2011
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Von
Jenny Willner, Institut für Komparatistik, Ludwig-Maximilians-Universität München

Auf der internationalen Tagung versammelten sich Historiker, Literatur- und Kulturwissenschaftler um das Verhältnis von Geschichtsschreibung und künstlerischer Darstellung bei der Erinnerung an den Holocaust zu diskutieren. Mit dem interdisziplinären Zugang zogen die Veranstalter die Konsequenz aus den jüngsten narratologischen Debatten in der Geschichtswissenschaft, die bald vierzig Jahre nach Hayden Whites Metahistory1 zunehmend über ihre eigenen Erzählverfahren zu reflektieren begonnen hat. Vor diesem Hintergrund wurden nun aktuelle Tendenzen vor allem im künstlerischen Bereich gezielt in den Fokus genommen: Besprochen wurden Romane, Filme und Kunstinstallationen, die sich im Umgang mit dem Holocaust vom Authentizitätsanspruch entfernt haben und auf ihre eigene Fiktionalität verweisen.

DIRK RUPNOW (Innsbruck), geschichtswissenschaftlicher Organisator der Tagung, referierte eingangs über die geschichtspolitische Rolle des Holocaust als paradigmatisches Menschheitsverbrechen und als Referenzbeispiel für das Verhältnis von Geschichte und Literatur. Die stark ritualisierten Formen öffentlichen Gedenkens kontrastierte er mit Zitaten von Ruth Klüger, Imre Kertesz, Claude Lanzmann und Saul Friedländer, die die Erzähl- und Repräsentationsproblematik betonen. Der Vortrag mündete in eine lebhafte Diskussion über die Rolle unmittelbarer Zeitzeugen für die kollektive Erinnerung. Inwiefern werden die Stimmen der Zeitzeugen in der Geschichtswissenschaft überschätzt? Das Gegenteil sei der Fall, lautete der Tenor, die stark verzögerte deutsche Rezeption etwa von Saul Friedländer zeuge von einem Unbehagen gegenüber dem Opfernarrativ, einem Vakuum der emotionalen Verarbeitung, das nach wie vor als Herausforderung auch für die Geschichtswissenschaft zu betrachten sei.

IRIS ROEBLING-GRAU (München), literaturwissenschaftliche Organisatorin der Tagung, hielt den ersten von drei Vorträgen über Jonathan Littells 2006 erschienenen Roman Les Bienveillantes (Die Wohlgesinnten). Das Skandalon dieses Romans bestehe sowohl in der Perspektive als auch im Stil: Als Ich-Erzähler spricht die fiktive Figur Max Aue, ehemaliger SS Offizier, der die Massenmorde an der Ostfront unter obsessiver Verwendung historisch verbürgter Daten schildert. Roebling-Grau zeigte, wie der vordergründige Eindruck, damit würde die Illusion von Unmittelbarkeit erzeugt, durchgehend mit literarischen Mitteln konterkariert wird. Die Rede Max Aues sei stilistisch wie inhaltlich zerstückelt, der Text verbinde Elemente aus Gewaltpornographie, Thriller, historischen Quellentexten und historiographischen Verarbeitungen bis hin zu visuellen Anleihen an die Organigramme Raul Hilbergs. Vom Versuch einer Repräsentation des historisch Geschehenen oder der Psyche eines Täters könne nicht die Rede sein: Les Bienveillantes sei vor allem ein metafiktionales Experiment mit der Form.

Mit dem Vortrag von JONAS GRETHLEIN (Heidelberg) wurde die Diskussion über formale Anleihen in Les Bienveillantes fortgesetzt: Grethlein analysierte den Umgang Littells mit tragischen emplotment-Strukturen, ausgehend sowohl von intertextuellen Verweisen auf Aischylos Orestie als auch von der These George Steiners, der zufolge die Tragödie mit dem Holocaust unbrauchbar geworden sei. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn Max Aue sich selbst als tragischer Held stilisiert? Grethlein betonte, dass der Rückgriff auf die Figur des tragischen Konflikts nicht unbedingt mit der Darstellung eines Geschehens als wesenhaft tragisch einhergeht: In Les Bienveillants werde die Struktur des Tragischen nicht als Schlüssel zur Deutung eingesetzt, sondern als Prisma, durch welches die Vergangenheit gebrochen dargestellt werde.

Woher rührt die Bereitschaft, sich auf die Stimme des fiktiven Kriegsverbrechers einzulassen? MARTIN VON KOPPENFELS (München) lenkte die Aufmerksamkeit auf die Leser von Bienveillantes. Literaturhistorisch sei die Figur Max Aue in der Nachfolge infamer, devianter und bösartiger Ich-Erzähler aus dem 20. Jahrhundert einzuordnen. Den Erfolg dieses Typus erläuterte von Koppenfels unter Rückgriff auf die abgründige Dimension des Identifikationsbegriffs: Das Verhältnis des Lesers zu Max Aue sei strukturanalog zu jenen Extremformen der Abwehr, die in der psychoanalytischen Theoriebildung als Identifikation oder Identifizierung mit dem Angreifer bzw. als Introjektion des Aggressors bekannt sind. Max Aues Anziehungskraft, so von Koppenfels, stehe in Zusammenhang mit der Abwehr der deprimierenden Wirkung der Holocaust-Thematik. Die Leser Littells nehmen an einem rituellen Programm teil: In den Winkelzügen ihrer Täteridentifikation sei die abgewehrte Identifikation mit den Opfern verborgen.

Mit der Vorstellung eines Spiels mit der Täterperspektive befasste sich auch ERNST VAN ALPHEN (Leiden), Kulturwissenschaftler. Das „LEGO Concentration Camp Set“ (1996) des Künstlers Zbigniew Libera ist als Produkt der Firma LEGO getarnt: Der Baukasten mit der Fotografie eines Konzentrationslager aus Legosteinen löse van Alphen zufolge beim Betrachter den gedanklichen Impuls aus, ein eigenes kleines Lager zu bauen. Dieses Angebot einer Täteridentifikation fungiere als Zufuhr von „historischem Gift“ in homöopathischer Dosis, um das Trauma in spielerischer Form handhabbar zu machen. Da der Baukasten jedoch stets nur ungeöffnet in der Ausstellungsvitrine gezeigt wird, besteht seine Wirkung in der provokativen Anregung zum Spiel bei gleichzeitigem Spielverbot.

Wie verhält sich die literarische Imagination der jüngeren Generation zur Zeitzeugenschaft der älteren? Eine umfassende Bestandsaufnahme der Gegenwartsliteratur über den Holocaust lieferte AXEL DUNKER (Bremen). Anhand der Romane von Soazig Aaron, Norbert Gstrein, Ursula Krechel, Jürg Amann, Katharina Hacker und anderen wies er auf die Überlagerung distinkter historisch-geographischer Referenzebenen hin sowie auf die Rolle des zeitgenössischen Romans als diskursives Archiv über den Umgang mit Wahrnehmungsmustern, Wissensformen und Textbeständen. Duncker zufolge bringt die Gegenwartsliteratur über den Holocaust produktive Verfremdung in eine Situation ein, in der immer wieder eine gewisse Ermüdung im Umgang mit dem Thema zu beobachten sei.

Ausgehend von der diskursbegründenden Funktion des Holocaust für die Genozidforschung sprach der Literaturwissenschaftler ROBERT STOCKHAMMER (München) über Schwierigkeiten bei der Darstellung anderer Genozide. Beim Schreiben über Verbrechen gegen die Menschheit sei der Holocaust nicht wegzudenken, insofern sei seine Vergleichbarkeit grundsätzlicher Natur. Dabei bewirke genau dieser Umstand bestimmte Asymmetrien und Unterschiede bezüglich der Form. Anhand der Romanliteratur über den Genozid in Ruanda sei zu beobachten wie der Bekanntheitsgrad des jeweils geschilderten historischen Geschehens die Schreibweise beeinflusst. In Romanen, die darauf angewiesen seien, das historische Grundwissen erst mitzuliefern, spielen ironische bis kontrafaktische Experimente mit der Form, wie wir sie aus der Holocaustliteratur der Gegenwart kennen, kaum eine Rolle.

Die Literaturwissenschaftlerin MONIKA SOCHA (Bielefeld) erzählte über den Holocaust als Gegenstand von Horror-Comics, und zeigte entsprechende Bilder, in denen Täter wie Opfer als groteske bis monströse Erscheinungen figurieren, deren Erinnerungen an die Konzentrationslager mit allen Mitteln des Horror-Genres dargestellt werden. Dabei spannte sie mit Bernard Kriegsteins Master-Race und Todd McFarlanes Spawn den Bogen von den 1950er- bis zu den 1990er-Jahren.

Die Historikerin ANNETTE TIMM (Calgary) sprach über die Sexualisierung der Erinnerung an den Nationalsozialismus. Anhand von Bildmaterial und Filmsequenzen zeigte sie wie etwa das Lebensborn-Projekt bereits in der US-Kriegspropaganda als ein vor allem sexuell anrüchiges Unterfangen dargestellt wurde. Solche mit vergleichsweise subtilen Mitteln operierende Formen der Sexualisierung verglich sie mit drastischeren Beispielen hauptsächlich aus den 1970er-Jahren, etwa Don Edmonds Exploitation- bzw. Gore-Film Ilsa, She Wolf of the SS, Liliana Cavanis Il portiere di notte sowie die Darstellung sexueller Sklaverei in Yehiel De-Nurs Roman House of Dolls, den der Autor unter dem Pseudonym Ka-tzetnik 135633 – seiner Häftlingsnummer in Auschwitz – publizierte. Diese Darstellungen, so Timm, bieten den Rezipienten Projektionsflächen für deviante Formen der Heterosexualität, wobei es fraglich sei, ob sie der Distanzierung gegenüber dem Gegner dienen. Im Gegenteil sei hier von Formen libidinöser Beteiligung auszugehen, die noch der näheren Analyse bedürfen.

Anhand von Quentin Tarantinos Inglorious Basterds stellte Filmkritikerin CRISTINA NORD (Berlin) die Rachephantasie von der Tötung Hitlers zur Diskussion. Als Kontrastbeispiel nannte sie Oliver Hirschbiegels Der Untergang, wo sich die Tür vor dem Suizid Hitlers dezent verschließt. Tarantino geht umgekehrt vor: Während die jüdische Familie bei der Erschießung außer Sichtweite bleibt, steht die Erschießung Hitlers exemplarisch für die Splatter-Ästhetik des Regisseurs. Als nachträgliche antifaschistische Wunscherfüllung, so Nord, entbehre Inglorious Basterds dabei nicht der kritischen Selbstreflexion: Die fiktive Bande des Films, die jüdischen Widerstand mit Apache-Resistance kombiniert, siege nur um den Preis einer Kooperation mit dem SS Oberst Landa.

Der Literaturhistoriker STEFAN BRAESE (Aachen) sprach über das Bewusstsein des Katastrophischen als Heimstätte des Komischen im jüdischen Witz, und betonte die soziale Funktion von Komik unter Todesbedrohung. Anhand von George Tabori erläuterte er zudem die sprunghafte, dialektische Struktur von Witzen, die auch als Distanzsignale nach außen dienen. Ob und wie Holocaust-Komödien für ein breiteres Publikum funktionieren können, lasse sich nur anhand des einzelnen Artefakts diskutieren. Als hochvirulent bezeichnete Braese das Begehren von deutscher Seite aus, die grundlegende Differenz gegenüber der jüdischen Erinnerungsperspektive zu verwischen.

BRETT KAPLAN (Illinois), Literaturwissenschaftlerin, erläuterte anhand von Installationen Christoph Boltanskis den Begriff einer ästhetischen Trauer. Als Beispiel dafür beschrieb sie die Wirkung alter Fotografien, die Boltanski wie zum Totengedenken im Ausstellungsraum aufhänge. Diese Ästhetik evoziere Gefühle der Trauer, die unlokalisierbar bleiben – denn bei den Abgebildeten handele es sich nicht um Tote, sondern um Überlebende. Den Betrachtern bleibe es überlassen, sich zu fragen, wem ihre Trauer gilt.

BILL NIVEN (Nottingham), Historiker, berichtete über deutsche Holocaust-Denkmäler. Im Mittelpunkt standen Gegendenkmäler, die nicht auf ihren historischen Anlass verweisen, sondern zum einen das Wissen um das Geschehene voraussetzen und zum anderen das kollektive Vergessen mit reflektieren. Niven setzte die Denkmalkunst in Verhältnis zum deutschen Vergangenheitsbewältigungsdiskurs, der wellenartig bis zirkulär verlaufe. Formulierungen, die Begriffe wie „Völkermord“ und „Vertreibung“ nebeneinander stellen, sah er in den Kunstwerken durch die Tendenz begleitet, Symbole, die mit dem Holocaust assoziiert werden – etwa Stacheldraht und Koffer – semantisch zweideutig zu besetzen. Die Vorstellung vom Tabu der deutschen Opferperspektive führte Niven anhand zahlreicher Beispiele seit der frühen Nachkriegszeit ad absurdum: Die Beschwörung dieses Tabus, nicht die Tabuisierung sei das Auffällige.

Am Ende der Tagung sprach CHRISTIAN SCHNEIDER (Kassel) von einer neuen Qualität des Holocaust-Diskurses: Noch vor 20 Jahren hätte der Titel „Holocaust“-Fiktionen Assoziationen an Holocaustleugnung geweckt. Aus psychoanalytischer Sicht, ausgehend von der grundlegenden Fiktionalität der Erinnerung widmete sich Schneider der Rolle unbewusster Wünsche im Erinnerungsdiskurs. Auffällig sei etwa, dass die Rede vom bevorstehenden Sterben der Zeitzeugen genau in jener Zeit um 1980 geläufig wurde, in der die Überlebenden erst zu sprechen begannen. „Warten wir auf ihren Tod?“, fragte Schneider, und verwies auf die unschließbare moralische Wunde, an der die Zeitzeugen rühren. Unkontrollierbare Wünsche sah er auch in dem von Dori Laub entwickelten Interviewprojekt Video Testimonies am Werke: Laubs Begriff einer sekundären Zeugenschaft operiere mit der Vorstellung, der zufolge das Trauma der Überlebenden durch schmerzhafte Einschreibung an ihre jungen Interviewer weitergegeben werde. Schneider nannte dies eine Fiktionalisierung historischer Erfahrung nach dem Muster sakraler Initiation. Das Projekt scheitere am beidseitigen Wunsch: am Wunsch der Überlebenden nach Unsterblichkeit und am Wunsch der Nachgeborenen nach Opferidentifikation. Für die Zukunft mahnte Schneider zur kritischen Reflexion der eigenen Rolle im Umgang mit dem Holocaust, da sonst die Gefahr bestehe, die Grenzen der Empathie zu überschreiten. Der Wunsch nach Authentizität, so Schneider, sei der Motor der Fiktionalisierung.

Konferenzübersicht

I: Erzählen in der Literatur und in der Geschichtswissenschaft
(Chair: Andrea Löw)

Dirk Rupnow: Jenseits der Grenzen: Die Geschichtswissenschaft, der Holocaust und die Literatur

Iris Roebling-Grau: Jonathan Littells Les Bienveillantes: ein Beispiel für "Holocaust"-Fiktion?

Axel Dunker: Zwang zur Fiktion? Schreibweisen über den Holocaust in der Literatur der Gegenwart

Abendprogramm - Lesung im Tschechischen Zentrum

Jáchym Topol: Die Teufelswerkstatt, Suhrkamp, 2010
Diskussion mit dem Autor sowie Zuzana Jürgens (München), Andrea Löw (München/Berlin), Eva Profousová (Hamburg)

II: Plotstrukturen
(Chair: Martin von Koppenfels)

Jonas Grethlein: Die Tragödien der Shoah

Stephan Braese: Holocaust als Komödie

Panel III: Darstellungsformen in der Gedenkkultur und in der bildenden Kunst
(Chair: Axel Dunker)

Bill Niven: Die erschöpfte Ästhetik? Gegendenkmäler und das Leben danach

Ernst van Alphen: Playing the Holocaust/Playing with the Holocaust

IV: Wie erzählen Comic und Film?
(Chair: Iris Roebling-Grau)

Monika Socha: Entertaining Comics: Der Holocaust als Horrorgeschichte in Master Race und der Spawn-Episode Remains

Cristina Nord: Hitler goes kaput. Zu Quentin Tarantinos kontrafaktischem Geschichtsspektakel Inglourious Basterds

V: Faszinierender Holocaust
(Chair: Dirk Rupnow)

Annette Timm: Lebensborn and the Pornographic/Erotic Displacement of the Holocaust

Brett Kaplan: Aesthetic Mourning: Christian Boltanski

VI: Perspektiven
(Chair: Iris Roebling-Grau)

Martin von Koppenfels: Henker sein. Kertész, Littell und die Winkelzüge der Identifikation

Robert Stockhammer: "Holocaust aside". Über einige Schwierigkeiten bei der Darstellung anderer Genozide

Christian Schneider: Fiktionalisierung der Erinnerung. Das Problem der Zeugenschaft

Anmerkung:
1 Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore 1973.